Beim Aufräumen bin ich vor einer Woche auf ein paar ausgeblichene Papierfotos von 1981 oder 1982 gestoßen, an die ich mich sehr gern zurück erinnere: Zu dieser Zeit baute ich mir als Jugendlicher ein richtiges “Fully-Cross-Fahrrad” zusammen, da ich keine Mofa hatte und erst später ein Leichtkraftrad erwarb. Anfang der 80’er Jahre konnte man noch nirgendwo in Deutschland ein Fully kaufen. Also baute ich mir selbst eins.
Zu dieser Zeit gab es als ganz neuen Trend die ersten BMX-Räder von Mongoose in Deutschland, aber noch keine Mountainbikes – zumindest nicht in Paderborn. Und wenn, hätte ich sie nicht bezahlen können. Der gesamte deutsche Fahrradmarkt war seit den siebziger Jahren in einen unverzeihlichen Tiefschlaf gefallen. Diese Tatsache ist mir bis heute völlig unverständlich. Ich lechzte in meiner frühen Jugend geradezu nach geländegängigen “Cross-Rädern”, allein die noch junge Rally Paris-Dakar begann zu dieser Zeit für Jugendliche richtig populär zu werden – damals noch mit den verwegenen Amateur-Fahrern. Ein oder zwei Jahre Jahr später brachte Yamaha die legendäre XT600 Ténéré heraus. Eine damals kraftstrotzende Riesen-Enduro für verwegene Offroad-Weltreisende. So wurden meine ersten Sehnsüchte erweckt.
Das erste Fully wurde laut Bike-Magazin 1988 präsentiert. Rückblickend waren wir früher dran: Mit einem Jugendfreund zusammen bauten wir jeder ein Monstrum, ein SUV-, ja ein Killerbike an Fahrrad auf, das die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte. Zumindest unsere kleine Welt damals nicht. Wir drückten uns bei Zweiradhändlern die Nasen am Schaufenster platt. Da stand die erste DT 125 LC in blau, aber ich war noch zwei unendlich lange Jahre vom Führerschein entfernt. Da brauchte ich zumindest ein megacooles Fahrrad. Die wenigen Fotos hier sind von schlechter Qualität, weil mein Vater geistesgegenwärtig dieses erste, selbstgebaute Fully mit einer Super 8-Kamera zumindest einmal abgeschwenkt hat, als es schon verheizt war. Sonst hätte ich heute gar kein Bild von meinem vollgefederten Wahnsinns-Gelände-Fahrrad. Ich bin meinem Dad heute zutiefst dankbar für diese knapp 40 Jahre alten Bilder.
Vollgefedertes Downhill-Monster-Rad mit 28 Kg
Von den atemberaubenden Details meines Cross-Rads möchte ich hier berichten: Als Vorgänger hatte ich zunächst einen 24 Zoll Rixe-Rahmen mit einer Mofagabel gepaart. Das Rad hatte hinten ein 20 Zoll Hinterrad mit Bonanzareifen und wirkte durch die hohe Gabel etwas wie ein Chopper. Durch die schwere Gabel konnte man darauf minutenlang auf dem Hinterrad fahren. Der Wheely-Balanceakt war einfach zu halten. Was mich damals optisch sehr störte war das schmale Hinterrad mit dem dünnen Reifen. Viel breiter ging es nicht, da breitere Reifen sonst am Rahmen schliffen. Die hinteren Streben haben wir später mit einem Bunsenbrenner erwärmt und mit Hilfe eines Rohres breiter gebogen. So passte zumindest ein 2.25 Stollenreifen von einem Moped hinein. Anfang der 80er Jahre gab es noch unbewachte Schrottplätze, auf denen man als Heranwachsender herrlich herumwühlen konnte. Im Hinterhof des Amtsgerichts lagen z.B. frisierte Mofamotoren, Rahmenteile und illegale Tierfallen von Wilderern, die dummerweise erwischt worden waren. Das richtige Fully-Projekt startete damals erst mit einem auf dem Schrottplatz gefundenen Bonanzarad-Rahmen. Dieser hatte eine funktionierende Schwinge mit zwei primitiven Kunststoff-Federbeinen. Dies war auch für damalige Verhältnisse ein sehr seltener Rahmen, vielleicht aus Italien stammend. Bis auf die Kunststoff-Schutzbleche und dem Rahmen selbst war an diesem Gerippe wirklich alles Schrott. Den Rahmen hütete ich wie einen unvollendeten Schatz. Zufälligerweise konnte ich kurze Zeit später aus einem ziemlich verunfallten Edel-Peugeot-Mofa damals eine gute Teleskop-Vorderradgabel vor dem Schrott retten. Mit einem Satz fünffach verstellbarer Moped-Stoßdämpfer (viel zu hart für mein Fliegengewicht) hatte ich die wichtigsten Teile für ein vollgefedertes Fahrwerk zusammen.
“Ich erinnere mich neben meinen schwarzen Fingern auch an permanente, blaue Flecken am Rest meines jungfräulichen Körpers…”
Vorn wanderte ein altes 17 oder 18 Zoll Mofa-Vorderrad von einer Puch mit giftiger Trommelbremse in die Gabel, hinten kaufte ich eine neue Moped-Felge und speichte mit etwas dickeren Spezialspeichen eine Torpedo 3-Gang Nabe ein. Das Ganze wurde mit einem völlig überdimensionierten Hinterradreifen der Honda MT-8 in 3.00-16 ausgestattet. Ein ursprünglich angestrebtes 3.50er Exemplar schliff leider an der Schwinge… Als würdiger Vorderradreifen wurde ein neuwertiger 2.75 Stollenreifen mit einem kleinen Schnitt (Erstlings-Pressung-Ausschussware vom Reifenberg) aufgezogen. Die Felgen wurden dazu noch liebevoll in Schwarz gestrichen, so wirkten die Räder noch fetter. Zusätzlich kaufte ich einen überbreiten Cuppini-Lenker mit Strebe, der ebenfalls schwarz lackiert wurde. Fahrradteile waren zu dieser Zeit alle brav verchromt. Schwarz war etwas besonderes.
Mit dieser Konstruktion saß ich so hoch wie auf einer vollwertigen Geländesportmaschine – damals noch über jedem Pkw-Autodach. Die Bodenfreiheit war durch die Federelemente und die dicken Reifen absolut überragend und das Fahrrad lief trotzdem erstaunlich gut geradeaus. Allerdings musste man sehr intensiv treten, um das 28 Kg-Monstrum auf Geschwindigkeit zu halten. Ab 20 km/h erzeugten die groben Stollenreifen tiefe, beeindruckende Heulgeräusche, mindestens so laut wie heute die Fatbikes mit ihren Ballonreifen. Ich änderte die Übersetzung in Richtung Bergsteigefähigkeit und verbaute einen Umwerfer, so hatte ich 2 x 3 Gänge. Eigenartigerweise kam genau dieses System von Sachs damals zeitgleich auf den Markt… 6 Gänge waren Anfang der achtziger Jahre eine üppige Ausstattung. Rennräder hatten maximal zehn Gänge. Und ich hatte überhaupt kein Geld für irgendwelche Edelkomponenten.
Ein elektronikverrückter VW-Käferbastler aus der Nachbarschaft animierte uns damals zu weiteren, coolen Features. Wir lernten so mit dem Lötkolben umzugehen und löteten eigene Kabelbäume mit Schrumpfschläuchen, die wirklich schon professionell waren. So baute ich hinten in ein Mofarücklicht zwei weitere Birnchen als Bremslicht ein, die durch einen Mikroschalter am Bremshebel tatsächlich akkugespeist aufleuchteten. Standlicht und Fernlicht im Scheinwerfer wurden dann über einen Schiebeschalter gesteuert, der liebevoll mit Pattex ans linke Lenkerende geklebt wurde. Ebenso eine Hupe, die leider nur einen viel zu hellen Piepton erzeugte. Dieses Fully-Monsterrad erregte damals wirklich Aufsehen. Schon allein durch die schiere Größe. Ich wurde ständig angequatscht, was mir nach kurzer Zeit ziemlich auf den Keks ging. Ich investierte trotzdem einen Großteil meiner Freizeit in den weiteren Aufbau und die Instandhaltung.
Ständig gab es was zu verbessern oder zu reparieren. Meine Eltern machten sich über meine permanent schwarzen Hände lustig. Mein Jeans hatten ganzjährig schwarze Ölpartikel als Muster. Es war irgendwie eine Sucht, aber ich habe zu der Zeit gelernt ernsthaft zu schrauben, zu basteln, zu gestalten und konnte meine nicht kaufbaren Zweirad-Wünsche tatsächlich verwirklichen. Dieses Rad war damals für mich einfach der absolute Hammer!
Wir fuhren oft zum Monte Scherbelino, einer hügeligen Rodelbahn, die am Stadtrand von Paderborn in Form einer begrünten, ehemaligen Mülldeponie aufgeschichtet war. Freitags abends war hier immer richtig was los. Es gab auch einen Motorradclub mit älteren Erwachsenen samt Clubhaus, aber der Zapfhahn und abhängen interessierte uns kaum. Hier gab es Sprunghügel über die man wirklich meterweit fliegen konnte, die Motorradfahrer machten es mit ihren Enduros vor. Wir waren mit den Fahrrädern downhill gar nicht viel langsamer. Die überdimensionierten Federelemente steckten alles – wirklich alles weg. Man konnte z.B. mit jeder möglichen Geschwindigkeit über jeden (!) auftauchenden Bordstein in der Stadt fahren ohne auch nur etwas abzubremsen. Bergauf war es ohne Motor natürlich überaus anstrengend das ganze Stahlgeraffel wieder den Berg hochzukurbeln. Ich erinnere mich neben meinen schwarzen Fingern auch an permanente, blaue Flecken am Rest meines jungfräulichen Körpers.
Das Ende meines Fullies
Es war fast schon langweilig, bis zu dem Tag, als ich auf verschneitem Rasen bei einem Sprung auf einer durch den Schnee unsichtbaren Betonkante eines Gullideckels gelandet bin. Da war die Achsaufnahme der Gabel abgerissen. Das Ersatzteil von Peugeot kostete mit knapp 50,- DM damals entsetzlich viel Geld für mein schmales Taschengeld. Irgendjemand half mir aus. Kurze Zeit Später riss der gesamte Lenkkopf vom Rahmen ab. Das Fully, mein geliebtes Kunstwerk war damit Geschichte und ich war abgrundtief traurig. Mein Vater machte dann diese Aufnahmen im Keller mit seiner 8 Millimeter-Kamera. Das Rad steht hier auf den Bildern zwar noch, musste für diese letzte und einzige Szene aber schon geschickt arrangiert werden, damit es nicht in sich kollabierte.
Später schweißte mir mein damaliger Kunstlehrer eine neue Rahmenkonstruktion aus zugesägten Fahrrad-Standardrahmenteilen zusammen, wieder ein Fully – die nötigen Teile hatte ich ja alle noch. Der wollte eigentlich nur sein neues Schweißgerät ausprobieren und briet zunächst nur riesige Löcher in die Rahmenteile… heraus kam ein leicht schiefes Fahrrad mit kürzerem Radstand, das aber nicht mehr so schön geradeaus fuhr. Trotzdem war ich damals überglücklich wieder eines der ersten, selbstgebauten Fullies fahren zu können. Ein noch heute guter Schulfreund wollte mir das zweite Selbstbau-Fully damals für viel Geld abkaufen. Meine Mutter riet ihm eindringlich davon ab, weil man daran immer rumschrauben müsste. Das ganze Fahrradprojekt wurde dann irgendwann von hübschen Mädchen und einer noch hübscheren Yamaha DT 80 LC abgelöst.
Aber ich war eindeutig vom Basteln, vom Designen und der Individualisierung von Zweirädern angefixt und bin es bis heute. Es hat mich einfach nie mehr losgelassen.