Estland mit dem Fahrrad entdecken

Estland mit dem Fahrrad zu entdecken bedeutet Ruhe, Natur und Entspannung

Das Baltikum gilt für Radfahrer auch unter Insidern noch heute als Geheimtipp. Es verbindet die komfortablen Vorzüge Europas mit dem abenteuerlichen Flair des wilden Ostens. Es gibt den Euro als bequemes Zahlungsmittel, man kann überall mit Kreditkarten bezahlen und kommt in den Genuss demokratischer Tugenden, für die die baltische Bevölkerung mehrfach sehr hart bis aufs Blut gekämpft hat. Erst Anfang der 90er Jahre durften sich Litauen, Lettland und Estland von der Sowjetunion als eigenständige Staaten zähneknirschend entkoppeln und sich der EU anschließen. Estland kann heute aus meiner Sicht als das modernste der drei baltischen EU-Länder bezeichnet werden. Es gibt überall freies W-Lan, Internet-Technologieen wie z.B. Skype sind in Estland erfunden worden, vielen Menschen hat die freie Marktwirtschaft einen deutlich sichtbaren, sozialen Aufschwung beschert. Es gibt dazu auch noch traditionelle Werte, die aktiv gelebt werden: Sprache, Kleidung, Essen, Handwerk, Musik, Lebenseinstellung usw. … Die Mischung aus Tradition und westlichen Werten ist für Touristen angenehm, denn insgesamt trifft man in Estland auf ein ziemlich entspanntes, nordisches Volk. Vor vier Jahren waren wir mal in Litauen an der kurischen Nehrung und fanden, dass es deutlich ärmer wirkte.

 

Doch der Reihe nach: Unsere Reise beginnt mit einem zweitägigen Aufenthalt in Finnlands Hauptstadt >Helsinki. Wir kommen nach zweitägiger Schiffsfahrt über die Ostsee mit einer großen Fähre schon tiefenentspannt dort an. Helsinki hat viele architektonische Highlights aus dem Klassizismus und dem Jugendstil zu bieten. Die Stadt ist unglaublich sauber und wirkt sehr gut organisiert. Gutes Design gehört zum Leben und ist kulturell fest in der Gesellschaft implementiert. Die Menschen hier sind sehr freundlich und nehmen auch auf der Straße Rücksicht aufeinander. Alle Highlights sind fußläufig zu erreichen, sogar öffentliche Leih-Fahrräder kann man nach Anmeldung im Internet gegen eine kleine Gebühr ausleihen. Der Clou: Estlands Hauptstadt Tallinn liegt nur 80 km weit von Helsinki entfernt, dazwischen liegt der finnische Meerbusen. Man kann also via Fähre bequem zwischen beiden Hauptstädten mehrfach täglich pendeln.

 
Tallin am Abend vom Wasser aus

Abendstimmung in Tallinn: Um 22.45 Uhr scheint immer noch die Sonne

Nach zwei Tagen sonnigem Helsinki Ende Mai 2016 setzen wir also über nach Estland, verbringen noch die Nacht an Bord im Hafen von Tallin und fahren am nächsten Morgen mit dem Bus und Fähre südlich nach Kuressaare auf die Insel >Saaremaa, einem grünen Paradies für Naturliebhaber. Hier bleiben wir ca. eine Woche und leihen uns Fahrräder aus. Saaremaa ist die viertgrößte Ostseeinsel und die größte Insel Estlands. Die exponierte Lage und nur 36.000 Einwohner ließen der Insel ihren ursprünglichen Charme bis heute. Bis Anfang der 90er Jahre war es in der Neuzeit sogar nur dem russischen Militär erlaubt, die Insel überhaupt zu betreten.

 

 

Fahrradverleih auf der estischen Insel Saareema

Estland mit dem Fahrrad bedeutet auf Saaremaa nahezu autofreie Straßen und zumindest teilweise einen sehr komfortablen, beleuchteten Fahrradweg, der sich abschnittsweise über die fast menschenleere Insel zieht. Leider ist nirgendwo dokumentiert, wo der zweispurige Radweg A1 auf Saaremaa bereits existiert und wo man noch über Schotterstraßen fahren muss, denn oft sind nur die Hauptstraßen asphaltiert. Der “Go Vista”- Reiseführer empfiehlt uns daher Mountainbikes, aber die sind gerade alle ausgeliehen. Es gibt in Kuressaare nur einen richtigen Fahrradladen namens >Bivarix. Alles andere sind Leihräder aus Hotels zu utopischen Preisen von 20,- EUR pro Tag, für die man fast schon einen Leihwagen bekommt.

Radtour in Saareema, Estlands größter Insel

Radtour in Saareema, Estlands größter Insel

Wir lernen: Leih-Fahrräder sind bereits in der Vorsaison Ende Mai eindeutig Mangelware auf Saaremaa. Bei Bivarix bekommen wir einfache Standard-Räder mit 5-Gang-Schaltung für 9,- EUR pro Tag. Estland mit dem Fahrrad zu entdecken bedeutet für uns also “mit einfachem Material” auszukommen, wie in >Rumänien: Mein Fahrrad zieht nach links, das Rad meiner Partnerin verliert über Nacht immer etwas Luft aus dem Hinterradreifen. Doch was solls? – Dafür scheint die Sonne bis in die tiefen Abendstunden bei 24 Grad und einem kühlenden Lüftchen. Die Nächte Ende Mai sind hier erstaunlich kurz. Schon um 4.15 Uhr wird es hell, Sonnenuntergang ist erst gegen 23.00 Uhr. Richtig dunkel ist es dann aber immer noch nicht. Die Esten sprechen in dieser Jahreszeit daher von “weißen Nächten”. Licht braucht man Ende Mai am Fahrrad in Estland jedenfalls nicht.

Die Nationalstraße 10 nach Kuressaare ist die Hauptverkehrsader der Insel. Sie sollte deshalb mit dem Fahrrad gemieden werden. Alles andere ist für Radfahrer fein: Südwestlich von >Kuressaare kann die Nationalstraße 77 (die Verlängerung der N10 Richtung Nasva) und alle anderen Nebenstraßen sehr gut mit Rädern befahren werden. Alle paar Minuten kommt mal ein Auto, auf Nebenstraßen ist man fast allein unterwegs.

  • Radtour in Estland
  • Radfahren auf Saaremaa

 

Radfahren in Estland

Die estnischen Autofahrer überholen Radler im Regelfall mit gebührendem Abstand wirklich rücksichtsvoll. Auf den geschotterten Straßen gibt es die klassische Wellblechpiste, die mit normalen Rädern (keine Rennräder!) noch halbwegs gut befahrbar ist. Allerdings wird jedes Auto für den Radfahrer dann zu einer staubigen Angelegenheit. Dann gibt es noch die kleinen Forstwege in Estland, die nicht von Kraftfahrzeugen, aber mit dem Fahrrad befahren werden dürfen. Sie führen auf buckeligen Pisten durch Wälder in Naturschutzgebiete oder zum Strand auf Saaremaa. Hier wünscht man sich dann doch ein Mountainbike. Gleich auf der ersten Tour habe ich ein sehr großes, braunes Tier gesehen, das in 100 Meter Entfernung unsere Piste querte. Ein Reh, ein Hirsch oder ein Elch … ich werde es nie erfahren, denn es ging einfach im wahrsten Sinne des Wortes zu schnell.

Die Arensburg in Kuressaare

Die Arensburg in Kuressaare ist nicht nur ein beliebtes Ziel für Radler. Ein wirklich interessantes Museum zeigt Estlands Geschichte.

Estlands Flora und Fauna lässt sich mit dem Fahrrad jedenfalls sehr gut erkunden. Schon allein, weil man als Radler sehr leise oft allein unterwegs ist. Auf der Straße habe ich kaum überfahrene Tiere gesehen – nur eine kleine Schlange. Das liegt sicherlich an der geringen Verkehrsdichte, aber auch das Grundrauschen des Verkehrs gibt es hier nicht: Jedes einzelnes Fahrzeug fällt noch auf. Äußerst schwierig ist allerdings die Sprache: Man kann so gut wie nichts Estländisches lesen oder irgendwie halb verstehen. Dafür sprechen fast vor allem etwas jüngere Menschen brauchbares Englisch. Die etwas ältere Apothekerin konnte übrigens kein einziges Wort EN, FR, oder ES.

In fast jedem Dorf kann man sich in kleinen Läden als Radfahrer oder Wanderer selbst versorgen. Gemüse ist sehr preiswert, das Wasser in vielen Hotels und Wohnungen ist trinkbar, Estlands Biersorten schmecken nicht schlecht, der landesübliche Cider ist ausgesprochen köstlich. Wer mal eine osteuropäische Spezialität probieren möchte, sollte den pechschwarzen Brottrunk Kali (russisch: Kwas) antesten. Dieser enthält nur einen Hauch Alkohol, dafür aber viele Mineralien und Vitamine. Nach dem Radfahren leicht gekühlt genau das Richtige – fand ich zumindest. Es schmeckt ungefähr wie Dunkelbier, aber etwas saurer und leicht nach Brot. In Russland kann man den kultigen Kwas auf der Straße aus uralten Kesselwagen kaufen.

 
Estland mit dem Fahrrad auf staubigen Pisten

Estland mit dem Fahrrad auf staubigen Pisten

Auf den estnischen Radwegen trifft man vereinzelte Rennradfahrer, die natürlich den hier seltenen, aalglatten Asphalt lieben. Die normalen Straßen sind etwas rauer asphaltiert als in Deutschland. Sonst trifft man unterwegs kaum Menschen. Saaremaa ist einer der ruhigsten Orte, an denen ich in meinem Leben bisher war. Hier gibt es sie noch: Stille ohne Zivilisationsgeräusche, unterbrochen nur vom Gesang der Vögel und vom Wind. Saaremaa ist nicht nur für Radfahrer eine grüne Ruheoase mitten in der Ostsee. Weitere Tipps zum Radfahren auf Estland finden sich im >Radreise-Wiki.

 

Strand in Kuressaare, Estland

Strand in Kuressaare, Estland

Natürlich kann man auf Estlands Inseln neben dem Radfahren oder Wandern auch sehr gut baden. Das Schwimmen in der glatten, flachen Ostsee gleicht allerdings eher dem Schwimmen in einem seichten See als in einem Meer. Der Salzgehalt des ziemlich kalten Wassers ist sehr gering, da durch die strengen Winter kaum Wasser verdunstet. Im Brackwasser fühlen sich nur noch bestimmte Meeresbewohner wohl. Der Rest der Ostsee ist leider ziemlich leer gefischt. Mittlerweile gibt es saisonbedingte Fangverbote mit messbarem Erfolg, damit sich die Fisch-Populationen erholen können. Die letzten beiden Tage unserer Reise verbringen wir in Tallinn ohne Fahrrad.

 

Tallinn vom Wasser aus

Tallinn in der Abendsonne vom Wasser aus

Die mittelalterliche Hauptstadt Estlands gehört zum Weltkulturerbe. Vom Wasser aus Richtung Helsinki sieht sie aus, wie eine verträumte Märchenburg. Von innen entpuppt sich Tallinn aber als reine Touristenattraktion. Bei so vielen Besuchern fehlt mir in der uralten Innenstadt etwas die Authentizität. Aufgrund des groben Kopfsteinpflasters kann man hier nicht gut mit dem Fahrrad fahren. Neben den Menschenmassen prägen unzählige Restaurants, Kneipen, Verkaufsstände, viel zu viele Autos und Konzertbühnen das Stadtbild. Die Stadt ist wirklich sehenswert, aber eben nicht mit dem Rad… und es ist überhaupt nicht wie in Helsinki!

 

Estland mit dem Rad - Sonnenuntergang in moderner Architektur

Radler finden in Estland noch viel Tradition aber auch moderne Architektur

Abgesehen von Tallinn fährt man mit dem Rad durch saftige, grüne Naturwiesen, die durch die wenig bevölkerte Moorlandschaft oft unbewirtschaftet sind. Im Gegensatz zum deutschen Laubbläsern und Kärcher-Menschen, beweist der Este sein ganzes Können gern im Mähen von äußerst kurzem Grünschnitt rund um die eigenen vier Wände mit der Motorsense, die stundenlang liebevoll mit der Hand geführt wird. Trotzdem kommt der Radler z.B. in Saareema mit seinem Rad relativ schlecht ans Ufer der Ostsee. Auch wenn die Wälder niedriger sind als bei uns: Die Natur ist noch unberührt und wild hier.

 

 

 

Motorradgespanne auf Kihnu

Zu einer echten Berühmtheit haben es die Fischerfrauen auf der kleinen, estnischen Insel >Kihnu gebracht: Sie fahren nicht Rad, sondern mit alten russischen Motorradgespannen wie Ural, Dnepr oder Izh über die Insel. Mit buntem Kopftuch und Rock statt Helm und Führerschein. Aber mit guten Schrauber-Kenntnissen, die die über 50 Jahre alten Motorräder erfordern. Nähert sich eine Polizeistreife der Insel, warnt der Fährmann die Motorradfahrerinnen rechtzeitig. Die alten Gespanne verschwinden dann schnell temporär von den Straßen. Wie klein die Insel ist, sieht man in dieser >360-Grad-Ansicht.

Das Bild der Fischerfrauen mit Kopftuch und Rock auf den Ural-Motorrädern ist marketing- und pressetechnisch so stark ausgeschlachtet worden, dass die traditionellen Estland-Bikerinnen von jedem Touri, der nur das Wort “Motorrad” in den Mund nimmt, sofort genervt sind. Die Motorräder dienen eben nur als geländegängiges Transportmittel für Fischerinnen und Bauersfrauen, die Ihren Männern beim Fischen helfen oder ihre Kinder transportieren und sich kein geländegängiges Auto leisten können. Sie fahren auch im Winter mit Stollenreifen über die Eisplatten der zugefrorenen See und finden das überhaupt nicht spektakulär, sondern praktisch. Sie wollen einfach, das es so bleibt und man sie in Ruhe lässt. Es gibt zwei sehr interessante Youtube-Videos dazu:

[icon name=”external-link”] Video 1 Motorradgespanne im Einsatz auf Kihnu

[icon name=”external-link”] Video 2 Motorradgespanne als Tradition in Estland

 

Estland Radtouren ausgehend von Kuressaare

Kuressaare – Kaugatoma – Kuressaare ca. 45 km

Die Estland-Karte wurde hier aus Datenschutzgründen hier entfernt. Sie können Sie auf Google Maps ansehen.

Die Radtour führt aus Kuressaare teils über den ausgebauten Radweg A1 Richtung Süden über die N77 zum schmalsten Stück der Insel. Man fährt durch Estlands grüne Wälder, vorbei an einem ausgeschilderten Naturschutzgebiet, kann die Kriegsgedenkstätte in Tehumardi besuchen, wo sich eine der blutigsten >Schlachten des zweiten Weltkriegs ereignete (in dieser friedlichen Umgebung fast unvorstellbar) und biegt in Läätsa in eine 2 km lange Schotterstraße ein, die zur anderen Seite der Insel führt. Wir haben auf der Hinfahrt aus Neugier noch zwei lohnende Abstecher zum Strand gemacht. Hin und zurück nach Kuressaare sind es fast 50 km. Auf dem Weg gibt es nur einen kleinen Laden und ein Straßencafé – übrigens mit genießbarem Kaffee. Auf dieser Strecke ist man fast allein unterwegs.

 

Kuressaare – Upa – Mustla – Kaali Meteoritenkrater ca. 40 km

Die Estland-Karte wurde hier aus Datenschutzgründen hier entfernt. Sie können Sie auf Google Maps ansehen.

Von Kuressaare fährt man über den Radweg auf die fast autofreie Straße nach Upa und biegt dann in Mustla auf eine Schotterstraße zu den Kaali-Kratern ab. Der durch einen Meteoriteneinschlag entstandene Hauptkrater besteht aus einem ca. 50 Meter großen Erdloch mit einem 16 Meter hohem Erdwall. Die >Kaali-Krater sind wahrscheinlich vor 4000 Jahren entstanden und gelten als eine Hauptattraktion in Estland.

Radtour zum Kaali Krater auf Saareema

Radtour zum berühmten Kaali-Krater auf Saareema

 

 

Tipps für das Radfahren in Estland


  • Estlands beste Saison für Radfahrer und Wanderer ist von Mai bis September, im Juni regnet es aber bekanntlich viel
  • Die Winter können durch die nördliche Lage recht streng werden, im Hochsommer steigt die Temperatur teilweise bis auf 30° Grad durch das russische Kontinentalklima
  • Es gibt kaum Berge, aber die Windrichtung ist undefiniert und dreht sich gern. Hin- und Rückweg können also starken Gegenwind bedeuten
  • Gute Leihräder sind in Estland (zumindest auf Saaremaa) Mangelware. Wer viel fahren will, sollte sein eigenes Rad mitbringen
  • Saaremaa und Muhu haben optimale Insel-Größen für ambitionierte Radfahrer
  • Es gilt in Estland die Null-Promille-Grenze – natürlich auch für Radfahrer
  • In fast jedem Dorf ist ein kleiner Laden für Selbstversorger
  • Flickzeug und Universal-Luftpumpe am besten selbst mitnehmen. Viele Tankstellen sind unbesetzt und haben teilweise keine Reifenfüllgeräte. Große Supermärkte führen NICHT unbedingt Schlauch und Luftpumpe im Sortiment.
  • Durch Estlands unasphaltierte Straßen eignen sich am besten Fahrräder mit breiten Reifen, reine Rennräder sind fast ungeeignet
  • Die Nebenstraßen sind oft menschenleer, die Hauptverkehrsadern sollte man als Radler trotz rücksichtsvoller Autofahrer meiden
  • Helm, Warnweste und Regenkleidung machen für Vielfahrer Sinn
  • Wir hatten auf Saaremaa an der Küste kaum Probleme mit Mücken Anfang Juni
  • Estland mit dem Fahrrad ist auch für untrainierte Radfahrer problemlos möglich, Leihräder sollte man aber kurz Probe fahren

 

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